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Rede des Botschafters anlässlich der Filmvorführung und Diskussion „Das schweigende Klassenzimmer“

Das schweigende Klassenzimmer, © Deutsche Botschaft Brüssel
Lesen Sie hier die Rede des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland beim Königreich Belgien, Herrn Martin Kotthaus, die er am 13. Oktober 2019 anlässlich der Filmvorführung und Diskussion „Das schweigende Klassenzimmer“ gehalten hat.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jugendliche, liebe Kinder!
Das war ein toller Film. Packend und berührend erzählt „das schweigende Klassenzimmer“ eine Geschichte über Solidarität, Freundschaft, Zivilcourage und Freiheit. Es ist eigentlich völlig absurd: eine symbolische Geste – eine Schweigeminute in Gedenken an die Opfer des ungarischen Volksaufstandes – wird zur Staatsaffäre und macht aus einer ganzen Klasse Staatsfeinde. Irgendwie findet sich kein Stoppen und kein Bremsen, kaum glaubt man es sei erledigt, kommt die nächste Wendung. Das Eine kommt zum anderen und am Ende bleibt nur ein Ausweg.
Junge Schülerinnen und Schüler widersetzen sich einer Amok laufenden Autorität. Die Autorität in diesem Fall ist ein sozialistisches Unrechtssystem, das sich hinter leeren Worthülsen versteckt, herrschende Verhältnisse bürokratisch untermauert und Andersdenkende partout nicht verstehen will. Oder kann. Auf jeden Fall nicht tut.
„Das schweigende Klassenzimmer“ verdeutlicht, wie Menschen auch starkem Druck widerstehen können, wenn sie zusammenhalten und sich selbst treu bleiben. Ich bin sehr gespannt auf das Gespräch gleich, um zu hören, wie nah der Film an der Wahrheit ist.
Der Direktor fragt am Ende des Films: „und was habt ihr für die Ungarn bewirkt?“ „Nüscht“, ist seine Antwort. Vor zwei Tagen hatten wir eine Mahnwache für die Opfer des Attentats von Halle in der Botschaft hier in Brüssel. Und einer der Redner sagte, dass er es leid sei, immer nach einem Attentat zusammen zu kommen und zu sagen, dass wir uns nicht unterdrücken und mundtot lassen machen sollen von Terroristen. Und dann käme der nächste Anschlag. Ja, natürlich müssen auf Worte Taten folgen und ja, natürlich nervt es manchmal, wie lange das dauert, aber wenn wir schweigen, haben die Terroristen gewonnen. Wenn wir uns hinter unsere Mauern zurückziehen, haben wir verloren. Das haben wir auch in Belgien und Brüssel nach den Attentaten 2016 gesehen und in Berlin nach dem Attentat vom Breitscheidplatz. Und daher gilt bei dem Film, als auch bei der Mahnwache: Haltung, Worte und Gesten machen einen Unterschied!
Die jungen, entschlossenen Erwachsenen im Film erinnern mich an Zehntausende von jungen Menschen, die zurzeit für eine bessere Klimapolitik auf den Straßen demonstrieren und ihre Zukunft in die eigene Hand nehmen. Natürlich unter völlig anderen politischen Rahmenbedingungen. Natürlich unter völlig anderen Umständen. Keiner hindert sie zu sprechen, keinem drohen Strafen, wir haben Rede- und Meinungsfreiheit. Aber die Entschlossenheit und das gemeinsame Agieren, das kommt einem doch bekannt vor. Und was haben diese jungen Menschen alles bewirkt. Binnen weniger Monate hat sich die politische Diskussion geändert. Und ich will mich jetzt einer Bewertung enthalten, ob da immer Alle alle Details im Blick haben, oder ob da immer alles ausreichend abgewogen ist, ob man die Vor- und Nachteile der verschiedenen Wege ausreichend abgewogen hat. Aber eines ist sicher: sie haben etwas bewirkt! In Belgien war noch im Dezember 2018 das Thema Klima und Globale Klimaerwärmung zweit bis drittrangig, im Mai bei der Wahl war es mitwahlentscheidend. Und der Hauptunterschied in diesen 5 Monaten waren die Fridays for future Demonstrationen und das dadurch gestiegene Bewusstsein. Der Unterschied waren die vielen Mädchen und Jungen, waren die vielen Jugendlichen, die auf der Straße die Politik aufforderten, sich um die Zukunft des Planeten, sich um ihre Zukunft zu kümmern.
2019 ist ein besonderes Jahr, in dem wir 80 Jahre Beginn Zweiter Weltkrieg, 75 Befreiung Belgiens von dem Nazi-Terror, dreißig Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall gedenken.
Wir erinnern uns an den 9. November 1989, als geschah, was unvorstellbar war. Wir erinnern uns an Bilder der Freude und des Glücks. Wir erinnern uns an den großen Mut Tausender DDR-Bürgerinnen und Bürger, deren Sehnsucht nach Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie die Berliner Mauer der Angst – ein Schandmal aus Beton und Stacheldraht – friedlich zu Fall brachte. Wir erinnern uns an den Aufbruch in eine neue Zeit. Auch damals machte die Einigkeit stark - was nebenbei das belgische Staatsmotiv ist.
Ohne die Unterstützung unserer europäischen Nachbarn, auch der Belgier, der alliierten Schutzmächte und vieler Länder der Welt wäre das Ende der Teilung Deutschlands und Europas nicht möglich gewesen. Dass sich nur wenige Jahre nach dem Mauerfall ein vereinigtes Deutschland gemeinsam mit Staaten des Westens und des ehemaligen Warschauer Pakts zur Europäischen Idee bekennt, ist eine Wende der Weltgeschichte weg von hasserfüllter Konfrontation hin zu respektvoller, friedlicher und kooperativer Zusammenarbeit.
Dennoch erleben wir heute immer wieder Grenzen in einer scheinbar entgrenzten Welt. Zum einen finden wir Mauern, Absperrungen und Zäune, die zum Schutz gegen vieles errichtet werden. Zum anderen manifestieren sich auch natürliche Grenzen – sei es in Form eines unüberwindbaren Gebirges oder eines gewaltigen Mittelmeers.
Gerade in Zeiten, in denen nach isolierenden Mauern und nationalen Grenzen gerufen wird, spüren wir, wie kostbar europäischer Zusammenhalt ist. Wir sind in Europa nicht nur mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen konfrontiert, wir müssen uns auch wieder Egoismus, Neid und Missgunst stellen.
Der Rückzug in den Nationalstaat, ein Auslaufmodell der vergangenen Jahrhunderte, sowie Populismus und Extremismus bieten vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Herausforderungen unserer Zeit und greifen ununterbrochen das europäische Selbstverständnis der offenen Grenzen, Toleranz, Solidarität und Einheit in Vielfalt an. Werte, die wir lange garantiert glaubten, werden hinterfragt und ausgehöhlt – sie sind leider keine absoluten Gewissheiten mehr.
Nichts ist für immer. Nichts ist automatisch. Nichts ist sicher gegeben. Im Positiven wie im Negativen.
Das zeigen Beispiele aus der Vergangenheit: wie lange musste das Baltikum, wie lange musste Polen auf Unabhängigkeit warten. Wie lange schien allein die Idee daran höchst unwahrscheinlich? Wieviele hatten nach Jahrzehnten der Trennung den Gedanken an eine deutsche Wiedervereinigung aufgegeben? Und wer weiß - wenn heute immer einmal wieder gefragt wird, warum es noch Sanktionen wegen des Konflikts in der Ukraine und wegen der Krim gibt...
Und leider ist auch die EU kein Automatismus. Natürlich: die Europäische Union ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Sie ist eine starke Union, gegründet auf einem festen Fundament gemeinsamer Werte: Demokratie, Solidarität, Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Eine Union, in der sich Staaten seit fast durchgängig 75 Jahren friedlich begegnen, in der Menschen verschiedenster Nationalitäten intensiv zusammenarbeiten und zahlreiche verbindende Brücken – anstelle von trennenden Mauern – zwischen den unterschiedlichsten Ländern errichtet haben. Eine Union, die wir alle wertschätzen, immer neu befestigen sowie wachsen und blühen lassen müssen.
Ein Europa, das geschlossen zusammenhält, macht den Unterschied. Ein geschlossen auftretendes Europa kann sich erfolgreich für nachhaltigen Klimaschutz einsetzen. Wenn die Europäische Union mit einer Stimme spricht, wird sie in der Welt gehört.
Aber es gibt keinen Automatismus, dass das immer so weitergeht. Nie sind mehr Gegner Europas als heute in das EP gewählt worden. Nie war Europa mehr zum Zerreißen gespannt, als während der großen Migrationskrise 2015.
Wir sind deshalb gefordert, aktiv, mutig und entschlossen für unsere gemeinsamen, europäischen Werte einzutreten und sie zu verteidigen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich neue Grenzen, Gräben oder Mauern in Europa auftun – ganz egal, ob zwischen Nord und Süd oder West und Ost. Wir dürfen auch nicht zulassen, dass Borniertheit und Rassismus und Antisemitismus wieder einen Fuß auf die Erde bekommen. Lassen Sie uns – ebenso wie die mutige Klasse vor 63 Jahren – gemeinsam und geschlossen als überzeugte Europäerinnen und Europäer für eine starke Union einstehen. Jeden Tag!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! Und freue mich jetzt auf das folgende Gespräch.