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Weckruf von jenseits des Atlantiks

18.11.2016 - Artikel

Die letzten Tage sind voll von Spekulationen, was die Wahl von Donald Trump für die USA, für Europa bedeutet. Fest steht: die USA haben sich verändert. Und Europa muss sich verändern. Letzteres gilt ohnehin – unabhängig davon, wer Präsident der USA ist.

Ausgangspunkt für die europäische Politik ist die Tatsache, dass sich die strategische Situation für Europa grundlegend verändert hat: neben wachsender Instabilität in seiner Nachbarschaft ist unverkennbar, dass auf globaler Ebene auch das Denken in Kategorien der Politik der Stärke eine Renaissance erlebt. Zudem werden die zentralen westlichen Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit vermehrt in Frage gestellt.

Es sollte angesichts dessen eigentlich selbstverständlich sein: Es geht jetzt um den Zusammenhalt und die Selbstbehauptung Europas. Aber leider ist die aktuelle Diagnose ernüchternd: Nationale Egoismen gepaart mit Selbstgefälligkeit und politischer Kurzsichtigkeit charakterisieren viele europäische Diskussionen.  Es gibt keine gemeinsame Vision für Europa; auch scheint der Kern des europäischen Einigungswerkes – es ist in erster Linie ein Friedensprojekt! – in Vergessenheit geraten zu sein.

Was muss jetzt geschehen? Brauchen wir einen Neubeginn, eine neue Vision für Europa? Dies scheint angesichts der unterschiedlichen Ambitionen der EU Mitgliedstaaten wenig realistisch. Vielmehr geht es jetzt darum, den Weg auf der Grundlage der vorhandenen Fundamente konsequent fortzusetzen. Es geht darum, dass die EU die aktuellen Herausforderungen besser bewältigen kann und auch das Vertrauen der Bürger zurückgewinnt.

Europa darf sich jetzt nicht verzetteln, sondern muss konsequent eine auf praktische Ergebnisse konzentrierte Agenda verfolgen, eine Agenda, die dokumentiert, dass es einen unmittelbar erfahrbaren Mehrwert zu schaffen vermag. Im Mittelpunkt der europäischen Anstrengungen muss daher das große Thema Sicherheit stehen – die innere, die äußere wie die soziale Sicherheit. 

Deshalb kommt beispielsweise dem wirksamen Schutz der Außengrenzen der EU und der Reform des europäischen Asylsystems so große Bedeutung zu. Auch brauchen wir angesichts der geopolitischen Verschiebungen weitere Schritte auf dem Weg zu einer Europäischen Verteidigungsunion; die in dieser Woche von den Verteidigungsministern der EU beschlossenen Maßnahmen –  u.a. die Schaffung eines dauerhaften Planungs- und Führungszentrum für Auslandseinsätze, die Verbesserung der finanziellen Lastenteilung bei Auslandsmissionen, die Entwicklung eigener Fähigkeiten in der militärischen Aufklärung – sind wichtige Schritte zur Stärkung des sicherheitspolitischen Pfeilers der EU. Daneben ist es auch wichtig, das Potenzial des Binnenmarktes auszuschöpfen, um Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung und damit auch den sozialen Zusammenhalt in der EU zu geben. Wir brauchen jetzt eine eindeutige und verantwortungsvolle Politik zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit, wollen wir nicht die Unterstützung der Bürger verlieren.

Die EU ist kein abgehobenes Elitenprojekt. Es muss vielmehr die Bedürfnisse seiner Bürger in den Mittelpunkt stellen. In der jetzigen Situation kommt es darauf an, dies kurzfristig unter Beweis zu stellen. Die von den Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten im September verabschiedete Agenda von Bratislava muss deshalb bis zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im März des nächsten Jahres mit konkreten Ergebnissen umgesetzt werden. Und dies muss den Bürgern vermittelt werden. Dabei kommt europäischer Gemeinsinn vor nationalem Eigennutz.

Zur Glaubwürdigkeit Europas gehört auch das unzweideutige Bekenntnis zu Werten. Dieses Bekenntnis muss – soll es glaubwürdig sein – auch gelebt werden. Dies gilt gerade auch angesichts der Tatsache, dass die westliche Wertebasis zunehmend unter Druck steht. Deshalb muss Europa gegenüber Verletzungen dieser Wertebasis in den eigenen Reihen wie auch beispielsweise aktuell in der Türkei klar Stellung beziehen.

Die westlichen Demokratien sind eine Schicksalsgemeinschaft . Deshalb hat das transatlantische Bündnis immer eine so entscheidende Rolle in unserem außenpolitischen Denken gespielt. Daran hat sich auch nach den US Wahlen nichts geändert. Im Gegenteil: Zwar erwarten die USA, dass die europäischen Staaten mehr Verantwortung übernehmen. Dennoch sollte es nach den geopolitischen Veränderungen auf globaler Ebene auch im wohlverstandenen Interesse der USA liegen, das Bündnis weiter zu stärken und an der zentralen gegenseitigen Beistandsgarantie nicht zu rütteln.

Präsident Obama hat bei seiner Abschiedsreise nach Europa in dieser Woche die amerikanische Bündnistreue bekräftigt und zudem die Bedeutung der Achtung der gemeinsamen Werte unterstrichen. Dies ist eine klare Botschaft an seinen Nachfolger.

Rüdiger Lüdeking, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Königreich Belgien

Erschienen am 18.11.2016 in Le Soir online und am 22.11.2016 im Grenz-Echo.

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